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Mauerfall beim Besuch in Warschau

09.11.2013 - Artikel

„Amtsgeschichte(n)“: Botschafter Rüdiger von Fritsch über die Ereignisse vom 9. November 1989, als Bundeskanzler Kohl in Warschau zu Besuch war.

Als am 9. November 1989 in Deutschland die Mauer fiel, befanden sich Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher außer Landes. Wenige Stunden zuvor waren sie zu einem fünftägigen offiziellen Besuch nach Polen aufgebrochen. Unser Kollege Rüdiger von Fritsch, heute Botschafter in Warschau*, hat den Besuch damals mitorganisiert.

Botschafter Rüdiger von Fritsch
Botschafter Rüdiger von Fritsch© Bartek Bobkowski

„Ich habe zum Glück, was ich sonst nicht tue, Tagebuch geschrieben“, erzählt Rüdiger von Fritsch über die Umbruchsituation im Herbst 1989, die er in Warschau miterlebte. Er entschied sich, ein blaues Notizbuch mit seinen Erlebnissen zu füllen und besitzt heute detaillierte Aufzeichnungen aus der Zeit rund um den „ersten Besuch eines deutschen Regierungschefs in einem vormals sozialistischen Land, das zu diesem Zeitpunkt bereits eine weitgehend freie Regierung hatte.“

Diese neue politische Situation in Polen sei eine Besonderheit des Besuchs gewesen, so von Fritsch, und die Größe der Delegation eine Herausforderung:

„Der größte Teil des Bundeskabinetts war dabei, 100 Ehrengäste, 300 Journalisten... also gigantisch - und unter logistischen Umständen, bei denen man bei Regenwetter nicht von der einen auf die andere Seite der Weichsel telefonieren konnte.“

Ein Reise mit Hindernissen

Tagebucheintrag vom 9. November
Tagebucheintrag vom 9. November© AA / von Fritsch

Auch ohne die abendlichen Ereignisse in Berlin, von denen zu Tagesbeginn noch niemand etwas ahnte, wäre es vor dem Hintergrund der schwierigen deutsch-polnischen Geschichte kein einfacher Besuch geworden. „Das war das Verrückteste und Chaotischste, Intensivste und beruflich Interessanteste, was ich an Besuchsorganisation je erlebt habe,“ sagt von Fritsch im Rückblick und mit Überzeugung. Am 9. November 1989 schrieb er in sein Tagebuch:

Frühkommentar in der Deutschen Welle: „Nun ist es endlich soweit: Die Reiseroute ist gesteckt, die Kommuniqués geschrieben, nun kann der Kanzler nach Polen reisen...“ Wenn die wüssten! Der Botschafter versucht verzweifelt und vergeblich, den Außenminister zu erreichen. Nicht nur das Besuchsprogramm ist noch im Fluss: Die beabsichtigte und seit Monaten verhandelte gemeinsame Erklärung Kohl-Mazowiecki steht noch nicht. Der Kanzler hat erklären lassen, vorher fliege er nicht ab.

Ministerpräsident Mazowiecki und Bundeskanzler Helmut Kohl auf dem Flughafen
Ministerpräsident Mazowiecki und Bundeskanzler Helmut Kohl auf dem Flughafen© dpa/picture-alliance.com

Nicht einmal das Wetter spielte mit, an diesem historischen Tag. Wegen dichten Nebels musste der Abflug noch einmal nach hinten verschoben werden, berichtet Rüdiger von Fritsch. Verspätete Ankunft in Warschau. Nach der üblichen Begrüßung auf dem Rollfeld mit militärischen Ehren nahm das Programm zunächst noch den geplanten Lauf, die ersten offiziellen Treffen fanden statt.

„Natürlich waren alle Gespräche sehr stark unter dem Eindruck der Ereignisse in den verschiedenen sozialistischen Ländern, nicht zuletzt in der DDR. Das war schon sehr spürbar. In der Botschaft gab es auch noch eine große Zahl von Flüchtlingen in dieser Zeit.“

Neuigkeiten aus der DDR

Noch vor dem abendlichen großen Bankett erreichten die ersten Informationen über die Ereignisse in Ost-Berlin Warschau. Rüdiger von Fritsch hörte im Delegationsbüro des Regierungsgästehauses, dass die DDR-Behörden die Ausreise erlaubt hatten. Diese Nachricht habe das folgende Gespräch Genschers mit dem Publizisten Adam Michnik, einem der führenden Köpfe der bisherigen demokratischen Opposition, geprägt. „Was bedeutet das für Europa? Was bedeutet das für Deutschland? Ein eindrucksvolles Gespräch.“

„Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe. Dass das ein Mauerfall werden würde, haben wir erst in der Nacht bemerkt.“

Rüdiger von Fritsch (1989) im Gespräch mit Lech Walesa
Rüdiger von Fritsch (1989) im Gespräch mit Lech Walesa© AA / von Fritsch

Der Diplomat von Fritsch erinnert sich, dass die Analyse der polnischen Opposition zu diesem Zeitpunkt schon völlig eindeutig war: „Sie lautete: 'Wenn wir ein freies Land sind, dann wollen wir ein europaorientiertes Land sein. Die DDR steht uns im Wege, und daher sollten wir, Polen, für die deutsche Wiedervereinigung eintreten. Dann wird das vereinte Deutschland die Ostgrenze endgültig anerkennen und uns dann auf dem Weg nach Europa unterstützen.' Sehr stringent gedacht!“

Aus Überraschung wurde im Laufe des Abends Unsicherheit. Abreisen oder bleiben? Wie konnte der Kanzler seinen Verpflichtungen in der Heimat und im Gastland gerecht werden?

„Es wurde schnell sehr hektisch. Das bekamen wir im Protokoll mit, weil sehr bald überlegt wurde: Muss der Bundeskanzler zurück in die Bundesrepublik? Und es stand relativ schnell fest. Erstens, er muss zurück. Und zweitens, er wird wiederkehren - dann wird die polnische Seite auch Verständnis dafür haben.“

Wie kommt der Kanzler nach Berlin?

Kohl versprach dem polnischen Ministerpräsidenten Mazowiecki, wiederzukommen - und er sollte sein Wort halten. „In dieser Nacht begannen die Vorbereitungen. Mich erreichte am nächsten Morgen, so gegen acht Uhr, die Nachricht, dass die Delegation zurückreist, noch am selben Tage nachmittags. Der Abflugzeitpunkt wurde vorgezogen. Das war für uns wichtig, weil ich für die Logistik zuständig war.“ Nun stellten sich Rüdiger von Fritsch viele Fragen: „Wie kommt die Crew zum Flughafen und wo ist die eigentlich gerade? Zwei von ihnen waren zur Kranzniederlegung beim Denkmal eingeteilt, die müssten aber eigentlich zum Flughafen...!“ Auszug aus dem Tagebuch:

12:45 Uhr: Der Flugkapitän weiß noch nichts vom vorgeschobenen Termin. „Frühestens 14:00 Uhr, wenn alles klappt.“ Dann gibt es aber auch kein Essen an Bord. Alles egal, nur weg. Nach einiger Verhandlung ist die polnische Seite auch bereit, die Maschine aus der Parkposition starten zu lassen. Das spart 20 Minuten.

Das blaue Tagebuch mit Erinnerungen an Warschau
Das blaue Tagebuch mit Erinnerungen an Warschau© AA / von Fritsch

Außerdem musste ein Umweg über Hamburg gemacht werden, denn: „Nach Berlin zu kommen war das Problem. Das Zuflugrecht hatten nur die Alliierten.“ Doch die Mitglieder der Bundesregierung konnten schließlich abreisen, auch die Journalisten strömten zurück nach Deutschland. Für die zurückbleibenden Sondergäste wurde spontan eine Bustour durch Warschau organisiert.

Der Bundeskanzler erschien am Abend des 10. Novembers pünktlich zu einer Großkundgebung vor dem Schöneberger Rathaus. Tags darauf landete er wieder in Polen, wo er seinen Besuch fortsetzte; unter anderem mit einer Versöhnungsmesse auf dem ehemaligen Gut des deutschen Widerstandskämpfers Helmuth James Graf von Moltke: „Das hat hohe Symbolbedeutung gehabt. Kohl und Mazowiecki umarmen sich in Kreisau.“

Ein Glücksfall der Geschichte?

Polens Ministerpräsident Mazowiecki beim Bankett am 09.11.1989 mit seinen Gästen Kohl (l.) und Genscher
Polens Ministerpräsident Mazowiecki beim Bankett am 09.11.1989 mit seinen Gästen Kohl (l.) und Genscher© AA/ von Fritsch

Welche Bedeutung aber hat es gehabt, dass der Kanzler nicht in Bonn, sondern in Warschau vom Mauerfall erfuhr? Für Rüdiger von Fritsch bietet dieser Zufall der Geschichte viel Positives:

„Die Tatsache, dass er nicht im Lande war und die Gunst der Stunde auch genutzt hat, den Polen zu danken im Anschluss daran - das, würde ich sagen, ist ein Glücksfall gewesen.“ Kohl habe unterstreichen können, dass das polnische Volk nicht nur unter Deutschland gelitten, sondern auch zu einer guten Entwicklung Deutschlands beigetragen hat, betont von Fritsch. „Das sehe ich als Botschafter heute im Rückblick. Der Grund für das heutige gute Verhältnis ist auch damals mit gelegt worden.“

(*Seit März 2014 ist Rüdiger Freiherr von Fritsch deutscher Botschafter in Moskau.)

Mehr Informationen zu den deutsch-polnischen Beziehungen lesen Sie auf der Homepage unserer Botschaft in Warschau

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