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Ein Megafon für den Minister

30.09.2013 - Artikel

Unsere Kollegen berichten, wie sie im Dienst Ereignisse von außenpolitischer Bedeutung miterlebten. Heute: Botschaftsflüchtlinge in Prag 1989.

Botschafter Thomas Strieder
Botschafter Thomas Strieder© AA

Am 30. September 1989 verkündete der damalige Außenminister Genscher vom Balkon der bundesdeutschen Botschaft in Prag, dass die Ausreise für über 4000 DDR-Flüchtlinge möglich geworden war. Unser Kollege Thomas Strieder, heute Botschafter in Bujumbura, erinnert sich an seinen Einsatz in Prag in jenen Tagen.

Ein Anruf aus dem Personalreferat – damit fing für Thomas Strieder im Spätsommer 1989 das Abenteuer Prag an. Der junge Legationssekretär wurde gebeten, kurzfristig die Botschaftsmitarbeiter bei der Betreuung hunderter DDR-Flüchtlinge zu unterstützen. Heute nennt er diese Wochen „das nachhaltigste Erlebnis meiner Dienstzeit“ und fügt hinzu: „Die weltpolitische Bedeutung ist uns damals gar nicht bewusst gewesen.“

Es wird eng in der Botschaft

Zu Beginn hieß es noch Schlafsäcke organisieren, Zelte beschaffen und den rund 400 besorgten Flüchtlingen zuhören. Doch bald wurde es in der Botschaft, auf dem Gelände des Palais Lobkowicz, immer voller und enger: „Jeden Tag kamen immer mehr Menschen über den hinteren Zaun geklettert, viele Verletzungen gab es dabei auch. Auch die Kinderwagen und Babys wurden in teilweise dramatischen Aktionen über den Zaun gehoben“, sagt Thomas Strieder. Schließlich herrschte Ende September Ausnahmezustand.

Bis auf die Privaträume des Botschafters, aber buchstäblich bis zu dessen Haustür - Treppen auch – wurde alles belegt. Ich kann mich noch genau erinnern: der große Ballsaal, der Kuppelsaal, war dicht an dicht mit mehrstöckigen Hochbetten gefüllt. Wir haben uns keine Gedanken gemacht über die Statik.

Genscher kommt!

Erinnerungen an den Moment auf dem Balkon
Erinnerungen an den Moment auf dem Balkon© AA

Es blieb ein Einsatz rund um die Uhr für die Belegschaft der Botschaft und die vielen Helfer, bis am 30. September 1989 schließlich der Wagen des bundesdeutschen Außenministers vorfuhr. Eine heikle Situation: „Wir wussten nicht, dass Genscher kommt! Der Botschafter wusste es, aber das wurde bewusst eng gehalten. Wenn das Gerücht sich schon früher unter den Flüchtlingen verbreitet hätte, wäre es unruhig geworden.“

Genscher stieg vor dem Tor aus dem Dienstwagen aus und ich kann mich ziemlich genau an seinen Blick erinnern. Er war sehr beeindruckt, das sah man seinem Gesicht an. Er bahnte sich den Weg, begleitet von Sicherheit, durch die Flüchtlingsmenge. Dann war überall der Ruf „Genscher kommt. Genscher ist da!“

Ein Megafon für den Minister

Während die Delegation des Außenministers in der Residenz des Botschafters Gespräche führte, organisierte das Botschaftspersonal hinter den Kulissen seinen Auftritt auf dem Balkon. Schon vorher war ein Auftrag bei Thomas Strieder eingegangen: „Ich sollte mich gemeinsam mit anderen darum kümmern, Lautsprecher und Mikrofon zu besorgen – was uns in der Kürze der Zeit aber nicht gelang.“ Aus einer benachbarten Botschaft konnten sich die Botschaftsmitarbeiter immerhin ein Megafon ausleihen: „Der Hausmeister brachte das Megafon an und wir installierten einen notdürftigen Scheinwerfer, was gar nicht so einfach war.“

Dann ging Genscher die große Treppe herunter und in den Kuppelsaal. Auch da habe ich seinen Blick gesehen, da war er wirklich schockiert von den Zuständen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass es tatsächlich so dramatisch war, so eng belegt. Die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal. Durch diesen Saal ging Genscher auf den Balkon.

Nach den berühmten Worten des Außenministers – „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen...“ die in den Jubelschreien untergingen, musste alles ganz schnell gehen. Die Züge nach Westdeutschland starteten wenig später vom Bahnhof Prag über DDR-Gebiet in Richtung Hof, immer begleitet von einem Westdeutschen mit Diplomatenpass.

Der Flüchtlingsstrom reißt nicht ab

Thomas Strieder im Einsatz bei der Passkontrolle
Thomas Strieder im Einsatz bei der Passkontrolle© AA

„Ich gehörte zu denjenigen, die zurückgeblieben sind in der Botschaft, die sozusagen Stallwache halten sollten“, erzählt Thomas Strieder, doch ruhig blieb es nicht lange: „Die Botschaft lief wieder voll und ich habe in den frühen Morgenstunden bei der DDR-Botschaft angerufen und nochmal einen Nachschlag verhandelt.“

Kurz darauf zogen die Flüchtlinge - diesmal begleitet von Thomas Strieder - erst zu den Bussen, dann zum Bahnhof: „Das war der letzte Zug dieser ersten Aktion, der dann noch rausging. Ich habe, ehrlich gesagt, gar nichts eingepackt. Ich bin einfach so mit und später mit dem Leihwagen aus Hof wieder zurück.“

Hinter Dresden hielt der Zug dann plötzlich, auf freier Strecke. Panik bei den Reisenden, das war dramatisch. Ich bin dann durch jedes Abteil gegangen und habe gesagt: „Ruhe bewahren, Ihnen passiert nichts.“ Es stiegen nämlich Stasi-Leute zu. Sie schlossen die Zugtüren auf und gingen durch die Abteile. Dann haben die die Ausweispapiere verlangt, eingezogen und in jedem Abteil kam der Spruch: „Und hiermit werden Sie aus der Staatsbürgerschaft entlassen.“ Oder so ähnlich. Danach gab es dann unglaublichen Jubel!

Abschiednehmen im Zug

Andenken: DDR-Reichsbahnkarte mit Unterschriften der Flüchtlinge
Andenken: Reichsbahnkarte mit Unterschriften der Flüchtlinge© AA

Thomas Strieder erinnert sich an den Moment, als „sein Zug“ kurz vor der Ankunft im westdeutschen Hof war: „Da haben mir die Flüchtlinge so eine DDR-Zugstreckenkarte, großformatig, mit allen Zugverbindungen in der DDR, geschenkt. Unterschrieben von allen! Die habe ich mir natürlich eingerahmt.“ Danach ging auch für ihn alles ganz schnell: nur noch wenige Tage blieb der Legationssekretär auf Abordnung in Prag.

Natürlich sei es mit der Ausreise von DDR-Flüchtlingen aus Prag weiter gegangen, erzählt Thomas Strieder: „Aber es wurde langsam so viel Routine, bis es dann gar nicht mehr erforderlich war… bis dann die Mauer fiel.“ Dann rollt er vorsichtig die große DDR-Zugstreckenkarte wieder zusammen - sein wertvollstes Erinnerungsstück aus dem Herbst 1989.

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