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Wie Deutschland Einwanderungsland wurde

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70 Jahre Deutsch-Italienisches Anwerbeabkommen

Deutschland ist kein Einwanderungsland und die Gastarbeiter fahren wieder nach Hause: Das waren einmal politische Glaubenssätze. Aus den Arbeitern wurden Rentner und aus den Gästen „Migranten“, Einwanderer eben. Ein anderer Glaubenssatz ist, dass die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte ein Instrument der Arbeitsmarktpolitik gewesen sei, weil die westdeutsche Industrie sie benötigt habe.
Eine ganz andere Interpretation legen aber die überlieferten Akten nahe. Danach ist der Ursprung der wesentlichen migrationspolitischen Entscheidungen in Motiven der deutschen Außen- und Außenhandelspolitik zu suchen. Es zeigt sich, dass die Initiative, ausländische Arbeitskräfte anzuwerben, nicht von der Bundesrepublik Deutschland ausging und zudem keinerlei arbeitsmarktpolitischen Überlegungen folgte. Es waren die Regierungen der Entsendeländer, die ihre Bitten an die Bonner Ministerien herantrugen. Ihre Beweggründe konnten dabei ganz unterschiedlicher Natur sein.

Diplomatie und D-Mark

Italien, das seine Wirtschaft schon früh völlig auf eine europäische Zusammenarbeit ausgerichtet hatte, litt unter einem erdrückenden Handelsbilanzdefizit.

Schreiben des Bundesministers für Wirtschaft, Ludwig Erhard, an den Bundesminister für Arbeit, Anton Storch, vom 8. Oktober 1954, Seite 1, Archivsignatur: PA AA B 62-REF 412/43
Schreiben des Bundesministers für Wirtschaft, Ludwig Erhard, an den Bundesminister für Arbeit, Anton Storch, vom 8. Oktober 1954, Seite 1, Archivsignatur: PA AA B 62-REF 412/43 © AA


Im Oktober 1954 teilte Wirtschaftsminister Ludwig Erhard seinem Kabinettskollegen aus dem Arbeitsressort Anton Storch mit, dass die laufenden Handelsgespräche deshalb auf italienischen Wunsch hin erweitert werden. Es sollten Italiener in Deutschland arbeiten dürfen, mit deren D-Mark-Transfers das Bilanzdefizit in der Heimat ausgeglichen und zugleich die hohe Arbeitslosigkeit gesenkt würde. Das vollständige Schreiben ist unten in der Bildergalerie zu finden.

Hierüber kam es zum Streit zwischen den Bundesministerien, was der Öffentlichkeit nicht verborgen blieb. Die Gewerkschaften und die Bundesanstalt für Arbeitslosenvermittlung wandten sich gegen die Beschäftigung von Ausländern. Ein von Bundeskanzler Adenauer geforderter arbeitsmarktpolitischer Gesamtplan scheiterte am Konflikt der beteiligten Ministerien untereinander. Und ohne ein derartiges Konzept gelang es dem Auswärtigen Amt, seinen Vorrang bei den Verhandlungen zusätzlich zum Außenhandel auch auf die Ausländerbeschäftigung auszudehnen und gegenüber dem Bundesarbeitsministerium und dem Bundeswirtschaftsministerium zu behaupten. Die Diplomaten machten fortan die Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte an allgemein außenpolitischen oder außenwirtschaftlichen Bedürfnissen fest.


Eine Bildergalerie finden Sie unten auf dieser Seite.


Ein wenig beachteter Nebenaspekt des deutschen Arbeitsmarkts im Jahr 1955 war durch den NATO-Beitritt der Bundesrepublik akut geworden. Mittelfristig sollte der personelle deutsche Beitrag zur Verteidigungsgemeinschaft aus einer 500.000 Mann starken Bundeswehr bestehen. Woher sollten all die wehrbereiten Männer kommen? Und wer konnte sie in den Betrieben und auf den Feldern ersetzen?

Vertrauliche Aufzeichnungen von Dr. Wolf aus dem Bundesministerium für Wirtschaft vom 24. November 1954, Seite 1, Archivsignatur: PA AA B 62-REF 412/43
Vertrauliche Aufzeichnungen von Dr. Wolf aus dem Bundesministerium für Wirtschaft vom 24. November 1954, Seite 1, Archivsignatur: PA AA B 62-REF 412/43 © AA


In einer Aufzeichnung aus dem Bundeswirtschaftsministerium vom 24. November 1954 werden der Zusammenhang dargestellt und Lösungen aufgezeigt. „Gewisse Reserven“ lägen zwar noch bei Arbeitslosen, Lehrlinge und bei den Frauen. Aber „[d]ie Hereinnahme von Arbeitskräften aus dem Ausland, vor allem aus Italien, wird im Blick auf eine lediglich in der Saisonspitze zu erwartende Knappheit an Arbeitskräften in der Bauwirtschaft und Landwirtschaft akut werden“. Die vollständige Aufzeichnung finden Sie unten in der Bildergalerie.

Vor 70 Jahren, am 20. Dezember 1955, unterzeichneten Arbeitsminister Storch und der italienische Außenminister Gaetano Martino in Rom eine „Vereinbarung … über die Anwerbung und Vermittlung von italienischen Arbeitskräften …“ um junge Männer, vorwiegend aus den sozial benachteiligten und bildungsfernen Regionen des Mezzogiorno, als „Gastarbeiter“ zu gewinnen. Diese Arbeitskräfte wurden vor allem in Bereichen wie dem Baugewerbe, der Industrieproduktion und der Landwirtschaft eingesetzt.

Arbeitsmarkt und soziale Herausforderungen

Die italienische Arbeitsmigration nach Deutschland ist ein zentraler Bestandteil der Migrationsgeschichte der Bundesrepublik und hat das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Gefüge nachhaltig geprägt. Diese erste Phase der Arbeitsmigration legte den Grundstein für eine langfristige Präsenz und den nachhaltigen Beitrag der italienischstämmigen Bevölkerung in Deutschland.

Unterzeichnung des Anwerbeabkommens in Rom am 20. Dezember 1955: Bundesarbeitsminister Anton Storch (links) und der italienische Außenminister Gaetano Martino (rechts)
Unterzeichnung des Anwerbeabkommens in Rom am 20. Dezember 1955: Bundesarbeitsminister Anton Storch (links) und der italienische Außenminister Gaetano Martino (rechts) © picture alliance

Das deutsch-italienische Anwerbeabkommen war das erste seiner Art und diente als Vorbild für weitere bilaterale Anwerbeabkommen mit Spanien (1960), Griechenland (1960), Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968). In allen Fällen ging der Anstoß von diesen Ländern selbst aus, die mit der Entsendung ihrer Arbeitskräfte eigene Probleme zu bewältigen suchten. Sie wollten ihre aus der westdeutschen Exportstärke erwachsenen Devisenschwierigkeiten lösen, die heimische Arbeitslosigkeit reduzieren oder die ohnedies im Gang befindliche Emigration im Bereich der qualifizierteren Arbeiter kanalisieren und wenigstens deren Abwanderung verhindern. Die Bundesrepublik hatte wiederum ein Interesse daran, dass Handelspartner als solche erhalten blieben, und nicht durch ihre Bilanzdefizite am Handel mit Deutschland gehindert waren. Andere Gründe konnten das Bemühen um die Stabilität eines NATO-Partners sein, der Wille, einen EWG-Mitgliedsstaat zu integrieren oder – wie im Falle Jugoslawiens - die Absicht, den Ost-West-Konflikt zu entspannen.
Dass sich solche außenpolitischen Motive durchaus mit den Anliegen der deutschen Wirtschaft decken konnten, liegt auf der Hand. Schließlich herrschte spätestens seit 1960 Vollbeschäftigung und die Arbeitskraft der angeworbenen ausländischen Arbeiter wurde benötigt. 1960 war auch bei der Anwerbung der italienischen Arbeitskräfte das entscheidende Jahr des Umbruchs. Waren bis dahin die Zahlen mehr oder weniger kontinuierlich angewachsen, steigen sie von 48.800 (1959) rasch auf 121.700 (1960) und 224.600 (1961).
Tatsächlich erwiesen sich die Ergebnisse der Außenpolitik als kompatibel mit den Erfordernissen des Arbeitsmarkts. Aber es handelte sich bei den Anwerbevereinbarungen ausschließlich um eine der Industrie aus außenpolitischen Gründen ermöglichte vereinfachte Rekrutierung von Arbeitskräften im Ausland und nicht umgekehrt um eine an den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts ausgerichtete Außenpolitik.
Das ist keineswegs nebensächlich, wenn man sich manche Konsequenzen vor Augen führt. Bis zum Anwerbestopp von 1973 hat die Arbeitermigration nämlich ein stärker technikinduziertes Wachstum verhindert. Die zumeist un- oder angelernten ausländischen Arbeitskräfte verrichteten vielfach gerade jene Tätigkeiten, deren Potenzial zur mechanischen oder organisatorischen Rationalisierung besonders groß war.
Eine andere Folge betrifft die Menschen selbst. Um nur bei den Italienern (und sicherlich auch Italienerinnen) zu bleiben: Betrug ihre Zahl in der Bundesrepublik im Jahr nach dem Anwerbeabkommen 18.600 (1956), so waren es im Jahr vor dem Anwerbestopp, 426.400 (1972) Menschen.
Ihre Integration war von Beginn an mit Herausforderungen verbunden. Viele der frühen Migranten sahen sich mit gesellschaftlichen Vorurteilen, Diskriminierung und teilweise strukturellen Hürden konfrontiert. Die anfängliche Etikettierung als „Gastarbeiter“ führte dazu, dass ihre Integration nicht von vornherein als dauerhaft geplant galt. Im Laufe der Jahre änderte sich jedoch das gesellschaftliche Bild: Die anfangs als temporäre Arbeitskräfte angestellten Italiener blieben oftmals dauerhaft in Deutschland, gründeten Familien und integrierten sich schrittweise in die Gesellschaft. Die nachfolgenden Generationen – viele davon in Deutschland geboren – trugen maßgeblich zur multikulturellen Ausgestaltung unserer Städte bei. Hier sind die italienischen Gemeinden sichtbar präsent und bereichern die lokale Kultur - und nicht zuletzt die Gastronomie. Diese Wandelprozesse sind exemplarisch für die Herausforderungen und Chancen, die mit Migration einhergehen, und illustrieren, wie anfängliche Konflikte mit der Zeit in konstruktive gesellschaftliche Entwicklungen umgewandelt werden konnten.

Weiterführende Literatur:

Heike Knortz: Diplomatische Tauschgeschäfte. „Gastarbeiter“ in der westdeutschen Diplomatie und Beschäftigungspolitik 1953-1973. Köln, Weimar, Wien 2008.

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