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Der „Fall P.“ – die ersten Prager Botschaftsflüchtlinge
1974 – eine ostdeutsche Familie reist über die Prager Botschaft in die Bundesrepublik aus
Vor 35 Jahren besetzten im Oktober 1989 hunderte DDR-Bürger die Botschaft Prag, um so eine Ausreisegenehmigung in die Bundesrepublik zu erwirken. Die Fotos und Videos von Genschers Rede auf dem Balkon gingen damals um die Welt. Das Phänomen der Botschaftsflüchtlinge von 1989 ist seitdem weithin bekannt. Sie waren jedoch nicht die ersten: Schon 1974 besetzte eine Familie aus dem thüringischen Altenburg die Prager Botschaft – und reiste im Oktober 1974 in die Bundesrepublik aus. Dem vorausgegangen war ein Brief an den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt.
Stefan Peterlowitz lebte in der DDR in geordneten Verhältnissen, störte sich jedoch zunehmend an den Lebensbedingungen und der Honecker-Regierung. Beruflich hatte er Kontakte in die Bundesrepublik und informierte sich so und anhand westdeutscher Zeitungen über das Leben auf der anderen Seite der Mauer. Auf der Suche nach einer Schwachstelle, die er für seine Flucht nutzen konnte, fiel ihm der Artikel 116 des Grundgesetzes der Bundesrepublik auf. Danach ist jeder ein „Deutscher (…), wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling (…) deutscher Volkszugehörigkeit (…) in dem Gebiet des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat“. Peterlowitz verstand sich in diesem Sinne als deutscher Staatsbürger der Bundesrepublik.
Nachdem das Auto und die Modelleisenbahn verkauft waren und ca. 30 große Pakete über den Postweg eine Freundin in Hamburg erreicht hatten, ging es an einem Morgen im September nicht wie im Kollegen- und Bekanntenkreis behauptet in den Ostseeurlaub, sondern mit Bus und Bahn nach Prag. Die deutsche Botschaft befand sich damals noch in der obersten Etage des Hotel Jalta. Familie Peterlowitz wurde dort bei einem Botschaftsangestellten mit dem Satz vorstellig: „Wir kommen aus der DDR und hätten gern deutsche Pässe.“
Nach einer langen Diskussion über den Warschauer Vertrag und über das mutmaßlich falsche Anrecht auf bundesdeutsche Pässe bekam Stefan Peterlowitz 3000 Kronen und sollte damit in die DDR zurückreisen. Drei Tage später kehrte die Familie wieder in die Botschaft zurück, bestand auf bundesdeutsche Pässe und weigerte sich, die Botschaft zu verlassen.
Herr und Frau Peterlowitz wurden mit ihren Kindern in einem Raum mit einem Sofa und zwei Clubsesseln untergebracht. Die Kinder schliefen in den zusammengeschobenen Sesseln, Frau Peterlowitz auf dem Sofa und ihr Mann auf dem Boden. Das Essen kam aus der Hotelküche, Botschaftsangehörige brachten Kuchen und Spielzeug. Nach wenigen Tagen stieß Peterlowitz im Regal auf das Grundgesetz. Bis dahin nur mit dem Sachverhalt vertraut, kannte er nun den genauen Wortlaut und verfasste einen Brief an den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt. Darin bat er, dass der Artikel 116 „auch für uns mit allen daraus resultierenden Rechten und Pflichten angewandt wird“ und berief sich darauf, dass westdeutsche Medien wie das ZDF und Der Spiegel immer wieder auf die Gültigkeit des Artikel 116 auch für „DDR-Deutsche“ verweisen würden. Den Brief nahmen die Botschaftsangehörigen entgegen.
Einige Tage später stellt sich Jürgen Stange, Vertrauensanwalt der Bundesregierung, der Familie vor und fragte im leicht scherzhaften Ton: „Was haben Sie sich denn dabei gedacht? Sind Sie wahnsinnig? Wissen Sie, was Sie uns damit für eine Arbeit machen? Hier glühen die Drähte zwischen Bonn und Prag. Der Fall P der macht solche Wellen.“ Stange war fortan mit den Verhandlungen mit der DDR betraut und stand dazu mit deren Anwalt Wolfgang Vogel in Kontakt, der auch den Freikauf politischer Gefangener durch die Bundesregierung organisierte.
Nach drei Wochen war es am Morgen des 4. Oktober 1974 endlich soweit: Familie Peterlowitz konnte über Ostberlin in die Bundesrepublik ausreisen und bekam bundesdeutsche Personalausweise.
Tatsächlich hatten vor allem die beharrliche Verweigerung einer Rückreise in die DDR der Familie Peterlowitz wie auch die politischen Rahmenbedingungen zur Ausreise beigetragen: In der DDR standen die Feierlichkeiten zum 25-jährigen Staatsjubiläum kurz bevor, sodass die Zustimmung zur Ausreise laut einem am Abreisetag entstandenen Drahtbericht aus Prag auf Honecker persönlich zurückzuführen sei.
Auch die Bundesrepublik wünschte sich eine „störungsfreie Fortführung unserer Politik“ und damit der diplomatischen Beziehungen zur DDR wie auch zur CSSR. Die Familie verpflichtete sich daher auch, über die Modalitäten ihrer Ausreise „strengstes Stillschweigen zu bewahren“.
Die hohen Wellen, die der Fall schlug, reichten bis in die Gespräche zwischen den ost- und westdeutschen wie auch den tschechischen Außenministern am Rande der 29. Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York. Involviert war schließlich auch das Bundeskanzleramt, bei dem der Brief von Stefan Peterlowitz an Bundeskanzler Schmidt eingegangen war. Der Wortlaut seines Briefes ist in den Akten des Politischen Archivs in einem Drahtbericht der Prager Botschaft (darin auf den Seiten zwei bis drei) an die Zentrale überliefert.
Anmerkung: Dieser Text entstand Dank der Unterstützung von Stefan Peterlowitz. Seine ganze Geschichte hat er dem DOMiD e.V. – Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland in einem Interview erzählt, das unter der Signatur DOMiD-Archiv Köln, IN360 zugänglich ist. Als weitere Quelle diente die Akte B 130-VS/9717, die die erwähnten Drahtberichte enthält.
Vollständiges Faksimile und Transkription in der Bildergalerie unten auf dieser Seite!
Regest und Formalbeschreibung
Prag, 1974 September 19
Botschafter Gerhard Ritzel berichtet über das Asylersuchen einer Familie aus der DDR in der Prager Botschaft und bittet um Antwort auf deren Bittschrift an Bundeskanzler Schmidt.
Archivsignatur: PA AA B 130-VS/9719.
Drahtbericht, Ausfertigung, DIN A4, 2 Blatt, Vorder- und Rückseiten in Maschinenschrift beschrieben, linksbündig, gelocht. Dokumentenkopf mittig „geheim (Anm.: gesperrt gedruckt, A.W.) – amtlich geheimgehalten“, darüber und darunter waagerechte gestrichelte doppelte Trennlinie; links darüber „reg.nr. fuer edv 312 19.09.74 I933“, darüber auf der oberen Linie mittig händisch blau durchgestrichener roter Stempel „Geheim“ (auch auf Seite 2 und 3), rechts daneben rot maschinenschriftlich „amtlich geheimgehalten“ (auch auf Seite 2 und 3), darauf handschriftlich schwarz ausgefüllter blauer Eingangsstempel; oben mittig händisch schwarz abgezeichneter roter Sichtvermerksstempel „Bereitschaftsdienst“, daneben handschriftlich schwarz ausgefüllter blauer Verteilerstempel der 6 Arbeitsexemplare; mittig links unter dem Text auf Seite 1 paraphierter Kenntnisnahmevermerk, daneben am rechten Rand handschriftlich blau ausgefüllter roter Stempel „Geheimhaltungsgrad“, darunter schwarzer Stempel „bitte wenden“, am unteren Rand rechts handschriftlich schwarz ausgefüllter roter Stempel „Ablichtung gefertigt“, links daneben mittig blau durchgestrichener roter Stempel „Geheim“ (auch auf Seite 2 und 3); am Beginn und Ende des Textes handschriftliche schwarze Eingangs- und Ausgangsklammer, händische Unterstreichungen und Markierungen einzelner Passagen.
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