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Ein Ortez für die Menschenrechte der DDR-Bürgerinnen und -Bürger
Nachdem in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 tausende DDR-Bürgerinnen und -Bürger die innerdeutsche Grenze passierten, richtet sich ein Ortez des Auswärtigen Amts an alle deutschen Auslandsvertretungen – ein Plädoyer für die Menschenrechte und den Frieden Europas.
Die Kommunikation innerhalb des Auswärtigen Dienstes ist seit jeher eine seiner größten Herausforderungen. Mittels eines sogenannten Ortez – der Name geht auf den einst als „Orientierungsdienst“ bezeichneten internen Informationsdienst zurück – werden noch heute den Auslandsvertretungen vom Auswärtigen Amt politische Hintergrundinformationen und Stellungnahmen zu aktuellen Fragen der operativen Außenpolitik zur internen Sofortunterrichtung zur Verfügung gestellt, die in aller Regel nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind.
Als am 9. November 1989 Günter Schabowski, Sekretär des Zentralkomitees der SED für Informationswesen, abends in einer Pressekonferenz erklärt, dass die neuen Reisebestimmungen ab sofort gelten, eilen noch am selben Abend bzw. in der Nacht tausende DDR-Bürger zu den Berliner Grenzübergängen. Als erstes müssen die Grenzsoldaten an der Bornholmer Brücke um 21.20 Uhr den Schlagbaum unter dem Druck der Massen öffnen. Um Mitternacht sitzen die Menschen feiernd auf der Mauer am Brandenburger Tor.
Außenminister Hans-Dietrich Genscher und Bundeskanzler Helmut Kohl befinden sich am nächsten Morgen noch in Warschau. Das Auswärtige Amt reagiert auf die Entwicklungen in der DDR umgehend und sendet einen Ortez an alle Auslandsvertretungen. Doch anstatt, wie für einen Ortez üblich, detailliert über die sich überschlagenden jüngsten Entwicklungen in der DDR zu informieren, kapituliert der Verfasser bzw. die Verfasserin. Es sei „unmöglich, im Wege des Ortez eine aktuelle begleitende Unterrichtung der Auslandsvertretungen (sc. über die sich überstürzenden Entwicklungen in der DDR, A.W.) sicherzustellen.“
Stattdessen wird dazu geraten, den Fokus auf die Menschenrechte der DDR-Bürgerinnen und Bürger zu richten:
„Der weitere Ablauf der Ereignisse liegt in der Hand der Deutschen in der DDR. Der Respekt vor ihrem Freiheitswillen gebietet es, daß wir nicht vorwegnehmen, was sie wollen, wie sie es wollen und wann sie es wollen.
Die Menschen in der DDR wollen die Verwirklichung ihrer Menschenrechte einschließlich des Selbstbestimmungsrechts. Deshalb sind die Menschenrechte die zentrale Frage und der entscheidende Maßstab.
Es ist unsere Verantwortung, daß wir als Unterzeichnerstaat der Schlußakte von Helsinki mit allen Möglichkeiten, die wir haben, dafür sorgen, daß die Menschen in der DDR ihren Willen frei äußern und zur Geltung bringen können.
Es sind die Menschen in der DDR, die die Tagesordnung ihrer Entscheidungen zu bestimmen haben. Sie haben auch zu entscheiden, wie sie ihr Verhältnis zu uns bestimmen werden, und auch darüber, wie und wo sie ihren Platz im gemeinsamen Haus Europa einzunehmen haben.“
Die Interessen der Sowjetunion werden gewahrt durch den Verweis auf die von Michail Gorbatschow, seit 1985 Generalsekretär der KPdSU, eingeführte Metapher des „gemeinsamen europäischen Hauses“. Das fast schon emotionale Plädoyer setzt sich fort mit einem Blick auf die Zukunft Europas:
„Die Trennung der Deutschen ist entstanden mit der Trennung Europas und kann nur mit der Aufhebung der Trennung Europas überwunden werden.
Unser Standort in dieser Zeit des Wandels ist klar. Die Bundesrepublik Deutschland gehört der westlichen Wertegemeinschaft an. Sie ist Gründungsmitglied und engagiertes Mitglied der Europäischen Gemeinschaft. Wir gehen den Weg weiter in die Richtung einer Europäischen Union. Unsere nationale Zukunft ist in die Zukunft Europas eingebettet. Wir setzen uns für das große Ziel einer europäischen Friedensordnung ein. Die Schlußakte von Helsinki ist die Kursbestimmung.“
Der Ortez vom 10. November 1989 ist mit diesen Worten im doppelten Sinne ein „Besonderes Dokument“: Er beweist zum einen großen Respekt und Feingefühl des Auswärtigen Amts gegenüber der Bevölkerung in der DDR getragen von dem Wunsch und auch der Suche nach einer nationalen Einheit und Identität, die mit einer europäischen Einheit und Identität eng verknüpft ist. Zugleich drückt der Ortez jedoch auch die Sehnsucht nach innerdeutschen wie auch nach einem europäischen bzw. internationalem Frieden aus. Auch heute, 35 Jahre später, kann das Gedenken an den Mauerfall und die friedliche Revolution dem Wunsch nach Frieden neue Hoffnung geben.